Milieus, Milieubeschreibungen und ihre Visualisierung im Film

Armut wird in nahezu allen historischen Filmen durch Schmutz und Unordnung visualisiert, Reichtum oder Wohlstand hingegen durch Sauberkeit und Ordnung. Diese hoch problematische und zugleich diffamierende Verbindung knüpft allerdings lediglich an unbewusste und vielfach außerbewusste, allerdings völlig falsche Verurteile an. Die Vorstellung, dass arme Menschen grundsätzlich schmutzig und unordentlich, reiche Menschen hingegen ebenso grundsätzlich sauber und ordentlich seien, ist sowohl für die Gegenwart als auch für die Vergangenheit grundfalsch.

Gestickte Sinnsprüche als Wandschmuck mit Aufschriften wie „Ordnung und Reinheit ist die beste Zierde des Hauses“, „Blitzblank und rein muss Deine Küche sein“ oder „Ordnung ist des Hauses Zierde“ aus dem späten 19. und dem frühen 20. Jahrhundert sind ein beredtes Zeugnis für den Anspruch gerade ärmerer Menschen aus dieser Zeit, diesen – damals wie heute weit verbreiteten – Vorurteilen eben nicht zu entsprechen.

Armut geht ebenso nicht zwangsläufig mit Unsauberkeit und Unordnung einher, wie Reichtum nicht notwendig mit Sauberkeit und Ordnung verbunden sein muss, wobei die Vorstellungen davon, was Sauberkeit und Ordnung sind, ebenfalls Veränderungen unterworfen sind und in unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich interpretiert werden.

Küche in einem Stadthaus in Zürich um 1900 (Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich)
Musterküche um 1935 ( Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich)

Ein recht anschauliches und aufschlussreiches Beispiel hierfür gibt Hans Fallada in seinem 1932 erschienenen Roman „Kleiner Mann, was nun?“, in dem seine Protagonisten in der Zeit der Weltwirtschaftskrise unter Existenzsorgen leiden. Im Kapitel „Ein Etat ist aufgestellt und das Fleisch wird knapp. Pinneberg findet sein Lämmchen komisch“ stellt Emma „Lämmchen“ Mörschel einen Einnahmen- und Ausgabenplan für sich und ihren Freund Johannes Pinneberg auf. Von den sehr knappen 200 Reichsmark – die nach heutiger Kaufkraft etwa 940 Euro entsprechen –, die den beiden monatlich brutto zur Verfügung stehen, plant sie neben den unverzichtbaren Posten wie Steuern und Versicherungen, Miete, Strom, Fahrgeld und Lebensmittel ein:

Kleidung und Wäsche:

Schuhwerk:

Waschen, Rollen und Plätten:

Reinigungsmittel:

Blumen:

10,- RM

4,- RM

3,- RM

5,- RM

1,15 RM

Zusammen sind das 23,15 Reichsmark und somit immerhin knapp 12 Prozent des Gesamtbudgets dafür, dass sie und ihre Wohnung sauber sind und ordentlich aussehen. Selbst der gelegentliche Blumenschmuck gilt ihr trotz aller Armut als unverzichtbar.

Armut und Reichtum, Sauberkeit und Schmutz sowie Ordnung und Unordnung sind drei jeweils voneinander völlig unabhängige Kategorien. Dieser Gedanke eröffnet dem historischen Film und seiner Ausstattung einen neuen, dreidimensionalen Kreativitätsraum, der eine Milieu- und Figurencharakterisierung in ihren unterschiedlichsten Kombinationen jener Kategorien in einer Präzision ermöglicht, die mit der bisherigen einfachen Gleichsetzung von Armut mit Schmutz und Unordnung auf der einen und Reichtum mit Sauberkeit und Ordnung auf der anderen Seite schlicht nicht möglich ist.